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Demografie im Gesundheitswesen

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EXPERTEN STELLEN VOR – Teil 1

Demografische Entwicklungen nehmen in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Gesundheit einer Bevölkerung und die Gesundheitsversorgung.
aQua-Mitarbeiter Dr. rer. pol. Patrizio Vanella betreibt Forschung an der Schnittstelle zwischen Demografie und Gesundheit und stellt uns das Thema heute etwas genauer vor.

 

Patrizio, wer bist du?
Ich habe in Göttingen Finanzen studiert, mit Spezialisierung auf Statistik, Ökonometrie und Finanzmathematik. Nach Tätigkeiten im Controlling, u.a. bei der Cura Unternehmensgruppe, einem großen Berliner Konzern im Bereich Pflege und Rehabilitation, lehrte und forschte ich in Hannover, wo ich in Versicherungsökonomik promovierte. Im Anschluss war ich Statistiker am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI).

Kannst du uns kurz etwas über deine Arbeit am aQua-Institut erzählen?
Seit August 2022 bin ich in der Abteilung Gesundheitsberichtserstattung & Biometrie beschäftigt. Dabei übernehme ich verschiedene gesundheitsökonomische Evaluationen für Interventionen, die unsere medizinischen Partner im Rahmen des Innovationsfonds durchführen. Dabei bin ich auch mit der statistischen Analyse von Routinedaten verschiedener großer Krankenversicherer beschäftigt und berate intern in der methodischen Konzeption von Studien. Im vergangenen Sommer wurde mir am aQua dankenswerterweise die Gründung und Leitung eines Kompetenzclusters in Demografie anvertraut, der sich verstärkt mit Forschung an der Schnittstelle von Demografie und Gesundheit auseinandersetzen wird. Das kommt mir sehr entgegen, weil die Demografie mein Herzensthema ist; ich habe mich in meiner Promotion bereits mit der Entwicklung von Langzeitprognosen der Bevölkerung und der Sozialversicherungsnachfrage auseinandergesetzt und auch am HZI einen stärkeren Fokus auf demografische Aspekte in der epidemiologischen Forschung eingebracht, was, wie wir alle gesehen haben, in der COVID-19 Pandemie von hoher Bedeutung war. Ich bin schließlich auch seit Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Demographie aktiv und leite dort seit 2022, gemeinsam mit Prof. Gabriele Doblhammer, den Arbeitskreis Demografische Methoden.

Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, die demografische Entwicklung und die Gesundheitsversorgung gemeinsam zu betrachten?
Spätestens seit meiner Cura-Zeit sind mir die Zusammenhänge zwischen der demografischen Struktur einer Bevölkerung und ihrer Gesundheit sehr bewusst, als ich mich inhaltlich mit Pflegebedürftigkeit und Demenz auseinandersetzte. Mein Blick dafür hat sich über die Jahre in meinen weiteren Stationen immer weiter geschärft. Meines Erachtens ist die Demografie generell ein Forschungsfeld, das (unbewusst) in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen eine Rolle spielt, sich jedoch wohl nirgends so stark auswirkt wie im Bereich der Gesundheit. Man nehme nur die von mir bereits angeschnittenen Themen Pflegebedürftigkeit und Demenz, die ja auch eine große Schnittmenge aufweisen. So steigt nicht nur das Risiko, pflegebedürftig zu werden, mit zunehmendem Alter konsequent an, sondern auch das Risiko, einem höheren Pflegegrad zugeordnet zu werden. Altersdemenzen, insbesondere Alzheimer, werden praktisch simultan dazu prävalenter.
Was auch den wenigsten vor der Pandemie bewusst gewesen zu sein scheint: Auch in Bezug auf Infektionserkrankungen spielt die demografische Struktur eine wichtige Rolle. So wirken sich Kontaktraten zwischen Personen, die für verschiedene Altersgruppen sehr stark variieren, auf die Übertragungszahlen von respiratorischen Erkrankungen aus, was ja z. B. jeder, der Kinder hat, sicherlich schon mindestens einmal erlebt haben dürfte. Auch wenn Übertragungsrisiken per se nicht unbedingt demografisch beeinflusst werden, ist die Schwere des Verlaufs bei gewissen Erkrankungen sehr stark vom Alter abhängig, was ja bspw. für COVID oder die Influenza wohlbekannt ist.
Schließlich ist die Demografie ein starker Treiber der Arbeitsmarktsituation. Was hat das mit Gesundheit zu tun? Nun, gesundheitsbedingte Fehlzeiten am Arbeitsplatz (wissenschaftlich nennen wir das Absentismus) sind stark abhängig von demografischen Einflussfaktoren. So steigen die durchschnittlichen Fehlzeiten bei Arbeitnehmern bis nah ans Renteneintrittsalter fast monoton an, was nicht nur für die Arbeitgeber problematisch ist, sondern auch zu Kosten bei den Krankenversicherern in Form von Krankengeldern führt. Auch aus Rentenversicherungssicht ist die demografische Entwicklung hochrelevant – nicht nur was Altersrenten anbetrifft, an die jetzt jeder denken wird. So werden neben dem Absentismus auch chronische Erkrankungen bei Arbeitnehmern mit dem Alter prävalenter, die in vielen Fällen dann zu teilweisen oder vollständigen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeiten führen, die sich in entsprechenden Rentenzahlungen bemerkbar machen. Dieser kurze Überblick dürfte verdeutlichen, dass man „Gesundheit“ gar nicht ohne „Demografie“ durchdenken kann.

Vor welcher Herausforderung wird Deutschland in etwa 10 Jahren stehen, basierend auf deinen neuesten Erkenntnissen bei der Betrachtung von demografischen Daten und Gesundheitsdaten?
Die Herausforderungen sind vielfältig. Eine große Rolle spielen natürlich die Baby-Boomer, die bis 2031 ihr Renteneintrittsalter erreichen werden. Da diese sich jetzt praktisch in der Endphase ihres Erwerbslebens befinden, ist, wie ich es oben beschrieben hatte, bis Ende der 20er Jahre zunächst zu erwarten, dass der Absentismus und die Nachfrage nach Erwerbsminderungsrenten etwas zunehmen werden. Diese „Welle“ wird in den folgenden Dekaden etwas durch die Systeme schwappen.
Anfang der 2030er Jahre dürften wir den Höhepunkt an Altersrenten erleben. Allerdings ist danach, ab Mitte der 2030er, ein Anstieg der Pflegebedürftigenzahlen, insbesondere in den Pflegegraden 3-5, zu erwarten, da die Baby-Boomer ab dann in ihre 70er kommen. Zeitgleich haben wir neben der stärkeren Gesundheitsbelastung auf der einen Seite ein Unterangebot an qualifizierten Arbeitskräften. Die folgenden Generationen, die dann noch im Erwerbsalter sind, sind aufgrund vergleichsweise niedriger Geburtenzahlen schwächer besetzt, was ein allgemeines Arbeitsmarktproblem ist, das wir in Teilen schon heute vielerorts sehen. Insbesondere die wichtigen Gesundheitsberufe ziehen leider zu wenige Arbeitnehmer an, da sie vergleichsweise belastend und zudem nicht gut bezahlt sind. Von daher muss die Politik es schaffen, Berufe wie die der Krankenschwester und der Altenpflegerin attraktiver zu machen.
Den Optimismus, dass die Digitalisierung die demografisch bedingten Versorgungsprobleme lösen wird, teile ich nicht. Auch die Migration spielt dabei natürlich eine große Bedeutung, wobei aber im Blick behalten werden muss, dass nicht viel Immigration direkt gut für den Arbeitsmarkt ist. Es gibt sehr heterogene Ergebnisse, was den Arbeitsmarkterfolg von Migranten angeht. Umso wichtiger ist zum einen eine sehr schnelle und effiziente Arbeitsmarktintegration von ausländischen Pflegekräften ohne überflüssige Bürokratie sowie eine Akquise von möglichst bereits qualifizierten Arbeitskräften. Was auch in der Diskussion gerne vergessen wird: Deutschland leidet zugleich unter hohen Auswanderungen von jungen Menschen, die der Arbeitsmarkt sicherlich häufig gut gebrauchen könnte. Von daher wäre es auch wichtig, die Abwanderung aus dem deutschen Arbeitsmarkt einzudämmen, soweit es möglich ist.
Kurzum: Wir werden in den nächsten Dekaden keinen Mangel an zu bearbeitenden demografischen Forschungsfragen haben, insbesondere im Zusammenhang mit der Gesundheitsforschung.

 

Danke für das Gespräch.